Das Wunder von Kalymnos und Rentenbezug nach dem Tod
Weiterbezug der Rente nach dem Tod des Berechtigten ist kein strafrechtlicher Betrug! – Sozialbetrug ist ein gesellschaftliches Problem – von Prof. Dr. Erik Kraatz
Im Juli 2013 sorgte eine kuriose Meldung aus Griechenland für Aufsehen: Auf der griechischen Insel Kalymnos bezogen 152 Menschen Sozialleistungen für Sehbehinderte. Als dies ärztlich kontrolliert wurde, hatten 100 von ihnen ganz plötzlich ihr Augenlicht wiedergefunden.
Sozialbetrug auch in Deutschland?
Aber nicht nur im Ausland kommt Sozialbetrug vor, auch in Deutschland berichten die Medien immer wieder darüber. Und dies, obwohl an sich das Risiko, entdeckt zu werden, seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Förderung der Steuerehrlichkeit vom 23. 12. 2003 erheblich angestiegen ist, ermöglichte dies doch einer Vielzahl an Behörden, bei Bankinstituten Auskunft über Kontodaten zu erhalten (§§ 93 Absatz 7, 93b der Abgabenordnung). Doch zur Ausschöpfung aller staatlichen Kontrollbefugnisse fehlen schlicht die notwendigen Mitarbeiter. Dies scheint wie ein Fass ohne Boden, denn alleine im Berliner Bezirk Neukölln ermöglicht der Personalmangel Sozialbetrugs-Taten in einer Gesamthöhe von 100.000 € pro Woche. Umso wichtiger scheint es zu sein, dass die Justiz mit der notwendigen Präventionswirkung gegen die Täter in den wenigen aufgedeckten Fällen vorgeht.
Was ist mit dem Weiterbezug von Rente nach dem Tod?
Ein kürzlich ergangener Beschluss des Berliner Kammergerichts (Beschluss vom 27.7.2012 – 3 Ws 381/12, NZS 2013, 186) zu einer bislang umstrittenen Strafrechtsfrage vermag da auf den ersten Blick zu verwundern:
Nach dem Tod ihrer Mutter im Jahre 1997 informierte ihre Tochter (als Alleinerbin) weder die Deutsche Rentenversicherung Bund noch die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg über den Tod ihrer Mutter, so dass diese 10 Jahre lang ihre jeweiligen Rentenzahlungen weiterleisteten. Insgesamt flossen so Beträge von 75.283,51 Euro und 87.568,93 Euro auf das Konto der Verstorbenen, von wo deren Tochter fortlaufend Verfügungen zugunsten ihres eigenen Kontos und zudem Überweisungen für eigene Zwecke vornahm und so das gesamte Geld für sich verbrauchte.
Zur Rückzahlung verpflichtet?
Sozialrechtlich ist die Tochter unstreitig nach § 118 Absatz 4 Satz 1 des Sechsten Buchs des Sozialgesetzbuchs zur Erstattung der überzahlten Rentenbeträge verpflichtet, da der Rentenanspruch der Mutter mit deren Tod erloschen war (§ 102 Absatz 5 des Sechsten Buchs des Sozialgesetzbuchs). Strafrechtlich war bislang jedoch umstritten, ob die Erben nach dem Tod der Berechtigten eine Garantenpflicht treffe, den Rententräger über den Tod zu informieren, so dass bei deren bewusster Verletzung eine Strafbarkeit wegen Betrugs durch Unterlassen (§§ 263 Absatz 1, 13 Absatz 1 des Strafgesetzbuchs) folge.
Aufklärungspflicht nach § 60 Absatz 1 Satz 2 des Ersten Buchs des Sozialgesetzbuchs?
Teilweise wurde eine derartige Aufklärungspflicht bislang auf § 60 Absatz 1 Satz 2 des Ersten Buchs des Sozialgesetzbuchs gestützt, wonach die dort geregelten Mitteilungspflichten desjenigen, der „Sozialleistungen beantragt oder erhält“ auch für denjenigen gelten, „der Leistungen zu erstatten hat“, genüge hierfür doch bereits das bloße Bestehen eines materiell-rechtlichen Erstattungsanspruchs der Rentenversicherung (so Oberlandesgericht Düsseldorf, Beschluss vom 1.3.2012 – III-3 RVs 31/12; Amtsgericht Tiergarten, Urteil vom 14. 7. 1988 – (257) 56 Js 1268/87 Ls (96/88); Möhlenbruch, NJW 1988,1894 f.).
Andere verlangen dagegen für eine derartige Aufklärungspflicht, dass die zuständige Sozialbehörde gegen den Erben bereits ein förmliches Erstattungsverfahren eingeleitet haben müsse; bis dahin (also solange die Sozialbehörde nicht aus anderen Quellen Kenntnis der Überzahlung erlange) bestünde keine Aufklärungspflicht des Erben (so bereits Oberlandesgericht Köln, Urteil vom 10.10.1978 – 1 Ss 542/78, NJW 1979, 278 f.; Kammergericht, Beschluss vom 16.1.1995 – 4 Ws 288/94; Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 11.11.2003 – II-104/03, wistra 2004, 152 f.; Hefendehl, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2006, § 263 Rn. 154; Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 4. Auflage 2013, § 263 Rn. 159).
Das Kammergericht hat sich aus nachvollziehbaren systematischen Gründen (erneut) der zweiten Ansicht angeschlossen: „Die Mitwirkungspflicht nach Satz 1 trifft […] nur denjenigen, der `Sozialleistungen beantragt oder erhält´. Die Auskunftspflicht des Leistungsempfängers knüpft damit an ein auf den Leistungsbezug gerichtetes Verwaltungsverfahren an. Sie beginnt mit Eröffnung des Verwaltungsverfahrens und dauert während aller Phasen des Sozialleistungsverhältnisses bis zum Ablauf des Leistungsbezuges an. Auch in den Fällen, in denen Rentenzahlungen nach dem Tod des Berechtigten zu Unrecht erbracht worden sind, hat der Träger der Rentenversicherung gemäß § 118 Absatz 4 Satz 2 des Sechsten Buchs des Sozialgesetzbuchs die Erstattungsansprüche durch Verwaltungsakt geltend zu machen.“
Aufklärungspflicht nach § 99 Satz 2 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs?
Teilweise wird eine Aufklärungspflicht des Erben auch auf § 99 Satz 2 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs gestützt (so etwa von Tiedemann, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 12. Aufl., § 263 Rn. 57), wonach die Aufklärungspflicht des § 60 Absatz 1 Nr. 1 des Ersten Buchs des Sozialgesetzbuchs entsprechend gelte „in den Fällen, in denen […] Angehörige, der frühere Ehegatte oder Erben zum Ersatz der Aufwendungen des Leistungsträgers herangezogen werden“. Das Kammergericht betont demgegenüber zu Recht, dass diese Norm nur sogenannte (sozialrechtliche) Rückgriffsfälle regele, wohingegen bei Rentenzahlungen kein Rückgriffsanspruch des Leistungsträgers gegenüber anderen Personen bestehe, sondern allenfalls ein Erstattungsanspruch gegenüber der Erbin wegen ungerechtfertigter Bereicherung (§§ 812 ff. BGB), der vor den Zivilgerichten geltend zu machen ist.
Aufklärungspflichten aufgrund schützenswerten Vertrauens?
Eine Aufsichtspflicht ergibt sich auch nicht alleine dadurch, dass die Rentenzahlungen auf einem Konto eingingen, über welches der Erbe verfügungsberechtigt ist (so aber Ranft, Jura 1992, 66 [68]), da unzweifelhaft ist, dass das bloße Ausnutzen einer bereits vorhandenen Fehlvorstellung auf Seiten des Opfers keine Täuschung darstellt. Zudem könnte alleine das Bestehen einer Verfügungsvollmacht über das Konto der Berechtigten nur dann einen schützenswerten vertrauenstatbestand zugunsten der Rententräger begründen, wenn diese Kenntnisse von der Verfügungsvollmacht der Tochter gehabt hätten, was gerade nicht festgestellt wurde.
Eigene Überwachungspflichten des Staates
Die Tendenz des vorliegenden Beschlusses ist klar: Der Staat hat selbst dafür Sorge zu tragen, dass er vom Tod einer berechtigten Person erfährt. Die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür bestehen, wie das Kammergericht abschließend betont: „§ 119 Absatz 3 Nummer 1 des Sechsten Buchs des Sozialgesetzbuchs sieht nämlich vor, dass die mit der Zahlung und Anpassung der laufenden Geldleistungen betraute Deutsche Post AG die Zahlungsvoraussetzungen durch Auswertung von Sterbefallmitteilungen nach § 101a des zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs oder durch die Einholung von Lebensbescheinigungen im Rahmen der §§ 60 Absatz 1, 65 Absatz 1 Nummer 3 des Ersten Buchs des Sozialgesetzbuchs zu überwachen hat, wobei die letztere Verfahrensweise vor allem bei im Ausland lebenden Rentenbeziehern in Betracht kommt.“
Dies mag zwar durchaus rechtlich ausreichend sicherstellen, dass die Träger der Rentenversicherung im Rahmen des geltenden Untersuchungsgrundsatzes die notwendigen Informationen erhalten. Vertrauen ist gut, Kontrolle oftmals besser. Für deren praktischen Vollzug sollte der Staat jedoch seine Personalpolitik in den Sozialbehörden noch einmal stark überdenken.
V.i.S.d.P.:
Prof. Dr. Erik Kraatz
Privatdozent
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